Rainer Hugener
In Jahrzeitbüchern wurden seit dem Spätmittelalter nach kalendarischem Prinzip die Namen von Verstorbenen verzeichnet, die einem Kloster oder einer Kirche Stiftungen gemacht hatten. Als Gegenleistung sollte an ihrem Todestag «auf ewige Zeiten» für ihr Seelenheil gebetet werden. Die Höhe der Stiftungen war nicht festgelegt; sie reichen von einer Handvoll Kernen als jährlichem Zins bis hin zu ganzen Altären, Pfründen und kostbaren liturgischen Geräten. Die Einkünfte kamen meist dem Pfarrer, dem Kirchenbau und den «Armen» zugute, denen auf dem Stiftergrab Geld, Brot oder Wein ausgeteilt wurde, damit auch sie sich an der Fürbitte beteiligten.
Das Jahrzeitbuch von Uster gilt als das schönste der deutschsprachigen Schweiz. Den Namen vornehmer Stifter wie der Herren von Landenberg sind hier kunstvoll ausgeführte Wappen beigegeben. Die Wappen haben neben ihrer symbolisch-repräsentativen Bedeutung auch eine Verweisfunktion: Zum einen verweisen sie innerhalb des Buchs vom Kalendereintrag auf die Stiftungsbestimmungen im Anhang, denen ein entsprechendes Wappen beigefügt ist – ein mittelalterlicher Vorgänger des «Hyperlinks». Zum anderen nehmen die Wappen Bezug auf den sakralen Raum. Denn in der Kirche und auf dem Friedhof sind die Wappen der Stifter allgegenwärtig, sei es auf Grabsteinen, Wappenscheiben, Wandgemälden, Altarbildern oder auf gestifteten Messgewändern und -kelchen.
Die Wappen verweisen als Herrschaftszeichen noch auf einen weiteren, bislang kaum beachteten Aspekt des Jahrzeitgedenkens: Die alljährliche Verkündigung der Stiftungen, vornehmlich der Herren, stellte auch eine Form der Herrschaftsaktualisierung und -demonstration dar, die gewissermassen von kirchlicher Seite und damit von Gott sanktioniert wurde. Um das «alte Herkommen» des Geschlechts und damit die Rechtmässigkeit seiner Herrschaft zu verdeutlichen, heisst es etwa im Vorspann des Ustermer Jahrzeitbuchs, dass bereits bei der Kirchengründung, angeblich im Jahr 1099, ein Altar über dem Grab eines Herrn von Landenberg errichtet worden sei – obwohl ein Geschlecht dieses Namens zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierte und die Landenberger erst Jahrhunderte später in den Besitz der Kirche Uster kamen.
In diesem Sinn erzählten Jahrzeiten die – bisweilen weitgehend fiktionale – Geschichte von Kirche und Herrschaft. Den versammelten Kirchgenossen wurde so ihre Herrschaftszugehörigkeit und ihre Position im sozialen Gefüge sinnfällig vor Augen geführt. Dadurch dürfte das Geschichtsbewusstsein gerade auch der breiten, quellenmässig kaum fassbaren Bevölkerung massgeblich geprägt worden sein; desgleichen, wenn man in Uster noch im 15. Jahrhundert die Jahrzeit des 1386 bei Sempach gefallenen Herzogs Leopold beging und damit weiterhin Loyalität zum habsburgischen Landesherrn bewies, oder wenn man auf Anordnung der Zürcher Stadtregierung in einer feierlichen Schlachtjahrzeit der Besatzung von Greifensee gedachte, die im Alten Zürichkrieg 1444 massakriert worden war.
Jahrzeitbuch der Pfarrkirche St. Andreas in Uster, 1469–1473, Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 1, Pergament, Masse 47,0 x 34,0 cm.
Literatur
Hegi, Friedrich: Die Jahrzeitenbücher der zürcherischen Landschaft, in: Ders., Anton Largiadèr (Hg.): Festgabe Paul Schweizer, Zürich 1922, S. 120–217.
Kläui, Paul: Geschichte der Gemeinde Uster, Zürich 1964.
Schmid, Bruno: Das Jahrzeitbuch als Rechtsgeschichtsquelle, in: «Anzeiger von Uster», 23. August 2005, S. 12.
Schuler, Peter-Johannes: Das Anniversar. Zu Mentalität und Familienbewusstsein im Spätmittelalter, in: Ders. (Hg.): Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987, S. 67–117.
Zimmermann, Helena: Stiftungsreduktion contra Stiftungswirklichkeit. Das Richterswiler Anniversar und die Entstehung pfarrkirchlicher Jahrzeitbücher im späten Mittelalter, in: Zürcher Taschenbuch 127, 2006, S. 1–37.
Erschienen in: Christian Kiening; Martina Stercken (Hg.): SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 4), S. 232f.