Wie alt ist Uster? - Über Gründung und Ersterwähnung eines Ortes
Fabrice Burlet
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Die Ersterwähnung von Uster: 775 erfolgten in
Uster drei Schenkungen an das Kloster St. Gallen. Davon ist
nur noch die oben abgebildete Urkunde im Stiftsarchiv St
Gallen als Original erhalten geblieben (Original: StiASG,
I 50 – www.stiftsarchiv.sg.ch/).
Die Urkunden wurden damals nicht mit einem Siegel versehen,
sondern vom Schreiber unterschrieben (unten rechts).
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Wie alt ist Uster? Die Frage nach dem Alter einer Gemeinde bewegt die
Bevölkerung. Wie alt ist unsere Gemeinde? Wie alt ist unser Ort? Welches
sind die ältesten Bauten unseres Ortes? – Ein römischer Gutshof? Eine
alte Kirche? Ein Bauernhof?… – Gab es Kelten und Römer bei uns? So wie
man sein eigenes Alter kennt und seinen Geburtstag feiert, will man das
Alter einer Gemeinde kennen. Die Frage nach dem Alter scheint einfach
und kann am Stammtisch diskutiert werden, was im Folgenden anhand eines
fiktiven Gespräches aufgezeigt wird:
Diskussionen am Stammtisch - Auf der Suche nach Gründung und
Geburtstag
Im Wirtshaus in Uster sitzen Gäste aus Uster und solche aus den
Nachbarorten zusammen am Stammtisch. Es ist ein Kommen und Gehen
Diskutiert wird das Alter von Uster. Schnell kommt man zum Schluss,
Uster, erstmals 775 erwähnt, sei um einiges älter ist als Wetzikon, das
erst 1044 urkundlich erwähnt wird. Da freut sich der Ustermer: Uster ist
rund 250 Jahre älter als Wetzikon. Der aus Gast aus Wetzikon gibt sich
geschlagen und spendiert eine Runde. Dann kommt ein Geschichtsstudent an
den Stammtisch und berichtet davon, dass die Urkunde von 1044 erst
später „gefälscht“ sei und die Ustermer am Stammtisch machen sich über
den Gast aus Wetzikon lustig: „Ah, Ihr seid noch jünger, als ihr selbst
behauptet!“ Der aus Wetzikon antwortet darauf: „Das stimmt nicht; auf
unser Homepage ist 1044 angegeben. Wir lügen nicht!“ Doch der
Stadtzürcher, der am Stammtisch seinen Kaffee geniesst, wird voller
Stolz sagen können: „Wir haben im Jahre 1986 2000 Jahre römisches Zürich
gefeiert.“
So könnten sie weiter über den Stolz der eigenen, alten Gemeinde
wetteifern. Doch das ganze scheint immer komplizierter zu werden. Die
Komplexität des Themas kommt nun deutlich zum Ausdruck. Der fleissige
Student hat noch eine weitere Bemerkung auf Lager: „Nein, nein, Zürich
ist älter als 14. v. Chr. Mein Professor hat nämlich erzählt, dass
neuerdings keltische Funde in Zürich gemacht wurden. Die Kelten waren
schon vor den Römern in Zürich! … Das zu Uster gehörige Dorf Riedikon
ist älter als Uster. Riedikons Ersterwähnung ist nämlich schon 741!“ Ein
pensionierter Herr aus der Runde, der sich an seinem Glas Wein erfreut,
fragt interessiert: „Wieso ist denn 775 das wichtige Jahr, wenn Riedikon
älter ist?“ Die Bäckerin antwortet: „Weil wir in Uster immer schon
wichtiger waren“, um anschliessend einen Schluck Bier zu nehmen.
„Chabis“, meint der Siegrist, „gab es denn keine Kelten in Uster?
Wohnten erst 775 Menschen hier?“
Auf diese Art könnte der Stammtisch weiter diskutieren, wobei die
Diskussion an gewisse Grenzen käme. Eines wird hier deutlich: Das Jahr
775 ist als Gründungsjahr von Uster nicht so klar, wie es scheint.

Riedikon wird vor Uster erstmals erwähnt (741 –
Zweiterwähnung: 744). Dennoch eignet sich das Jahr 775 – wie auch das
Jahr 741 für Riedikon –, bestens für ein Stadtjubiläum. Die Gemeinde
muss sich nur noch entscheiden, ob nur das eine Jubiläum, das von Uster,
oder beide zu feiern sind (Insofern man nicht jedes Dorf feiern möchte,
das heutzutage zur Gemeinde Uster gehört). Die Gemeinde hat sich
tatsächlich entschieden: 1975 wurde der 1200ste Geburtstag von Uster
gefeiert.
Im wissenschaftlichen Sinne ist dies alles einiges komplizierter.
Deshalb ist es richtig, wenn man sich für ein Jubiläumsjahr entscheidet,
auch wenn die 1200 Jahre Uster (775–1975) etwas Fiktives an sich haben.
Denn das Feiern eines Ortes stiftet Identität und Freude auch wenn es
mit dem Verstehen der Geschichte nicht per se einhergeht.
Die Wissenschaft versucht eine viel komplexere Realität unserer
Vergangenheit zu erfassen und zu verstehen, was auch im Rahmen einer
Jubiläumsfeier durchaus Begeisterung und Neugierde auslösen kann. In der
Folge werden wir uns mit der Bedeutung der Ersterwähnungen Usters
auseinandersetzen. Dann fahren wir mit der Frühzeit Usters und mit der
Besiedlung durch die Alemannen fort, wobei wir das Standardwerk von Paul
Kläui zum Vergleich von alter und neuer Forschung beiziehen werden.
Dabei wird ersichtlich werden, dass die Forschung immer wieder
Fortschritte macht und alte Ergebnisse durchaus widerlegt werden können.
Das Problem der Gründung und der Ersterwähnungen in Schriftquellen
Die ältesten, heute vorliegenden schriftlichen Dokumente, die Uster
erwähnen, stammen aus den Jahren 741 und 775. Wie in Zürich ist es
denkbar, dass neue Funde z.B. Aufschluss über eine mögliche keltische
Siedlung auf dem Burghügel geben. Daher sind wissenschaftlich gesehen
weder 741 noch 775 eindeutige Gründungsjahre.
Eindeutige Gründungsjahre sind im übrigen selten. Das 330 vom römischen
Kaiser Konstantin als neue Hauptstadt gegründete Konstantinopel, das
heutige Istanbul, war streng genommen "nur" ein grosszügiger und
planmässiger Ausbau der alten Hafenstadt Byzantion (Byzanz). In Freiburg
im Breisgau haben archäologische Ausgrabungen gezeigt, dass schon vor
der "Stadtgründung" eine Siedlung existierte. Zu den seltenen
Neugründungen zählen das um 1191 gegründete Bern, das gemäss
archäologischen Ausgrabungen auf freiem Feld, nicht unweit einer
früheren römischen Siedlung vom Zähringer Herzog Bertold IV. errichtet
wurde, ähnlich wie die im 20. Jh. mitten im Dschungel als neue
Hauptstadt Brasiliens angelegte Stadt Brasilia.
Die Ersterwähnungen von Uster (775) und Riedikon (741) sind zufällig und
sagen nichts über das Alter dieser Orte aus. Die Orte können durchaus
älter sein, bestanden jedoch spätestens bei ihrer Ersterwähnung,
vorausgesetzt die alten Schriften wurden nicht vordatiert.

Diese Zufälligkeit der Ersterwähnung eines Ortes wird vor allem bei
einer Aufstellung der Ersterwähnungen der verschiedenen alten Dörfer und
Weiler, welche das heutige Uster bilden, ersichtlich. In der Tabelle der
ersten schriftlichen Belege zu Uster (LINK ZUR TABELLE!) wird zwischen
älteren und jüngeren Erwähnungen unterschieden. In der linken Spalte
sind die beiden ersten Belege aus dem 8. Jh. zu finden, in der rechten
jene ab dem 10. Jh. Der Eindruck entsteht, Uster und Riedikon seien
tatsächlich viel älter als die anderen Orte.
Der Schein trügt: Die im 8. Jh. erstmals erwähnen Orte sind nicht per se
älter als die später erstmals erwähnten Orte. Sie können älter sein,
müssen es aber nicht, da die Belege aus den Schriftquellen im Normalfall
die Existenz eines Ortes, aber nicht dessen Alter bezeugen. Bei näherer
Betrachtung zeigt sich, dass die ältesten Belege aus dem Kloster St.
Gallen stammen (www.stiftsarchiv.sg.ch/). Dass diese Belege überhaupt
vorliegen, hängt damit zusammen, dass das alte Galluskloster einen
grossen Teil seiner ältesten Urkunden aufbewahrt hat. Die jüngeren
Belege sind keine Beweise für ein jüngeres Alter der Ortschaften,
sondern nur Ausdruck davon, dass die Orte nicht in Zusammenhang mit dem
uralten Kloster St. Gallen genannt werden.
Die Ersterwähnungen von Nänikon (1150) und Niederuster (vor 1227) finden
sich in den Zinsverzeichnissen des unter Karl dem Grossen erneuerten
Zürcher Grossmünsters. Die späte Ersterwähnung dieser Orte hängt wohl
weniger mit dem eigentlichen Alter der Orte zusammen, als viel mehr
damit, dass ältere Verzeichnisse zur Vereinfachung der Verwaltung der
Grossmünster-Chorherren durch neuere ersetzt wurden.
In ähnlicher Weise belegen die Urkunden für das Kloster Rüti nicht das
Alter von Wermatswil und Werrikon, sondern die Tatsache, dass das dort
begüterte, um 1210 gegründete Kloster Rüti als erstes Kloster Urkunden
zu den beiden Orten in sein Archiv aufnahm und aufbewahrte, während das
schon um 1050 gegründete Kloster Allerheiligen in Schaffhausen dem Lehen
in Wermatswil weniger Bedeutung beimass, so dass das Klosterarchiv keine
entsprechende Urkunden (mehr?) hat.
Die Tabelle zeigt somit nicht das Alter der Orte auf, sondern das Alter
der Klöster und ihrer Archive. Es kann durchaus sein, dass die scheinbar
jüngeren Orte schon im 8. Jh. bestanden, jedoch nicht in den Urkunden
des bis heute bestehenden Klosterarchivs St. Gallen erscheinen, da das
Kloster St. Gallen dort nichts besass und die andern Besitzer des 8.
Jh.s keine Schriften hinterlassen haben.
Die Dörfer und Weiler des heutigen Uster könnten alle schon im 8. Jh.
oder früher bestanden haben. Streng genommen wissen wir nicht, welche
älter und welche jünger sind. Die Belege für ihre Existenz sind zufällig
und schliessen ein höheres Alter nicht aus. Wie die Orte eigentlich
entstanden sind, bleibt unklar. Ebenso sind ihr früheres Aussehen und
einstige Bedeutung unklar. Die in der Tabelle aufgeführten schriftlichen
Belege, erwähnen die Ortsnamen, Zinsen, Höfe, Besitz usw., liefern aber
wenig konkrete Informationen: Die Existenz eines Hofes sagt nichts
darüber aus, ob es ein Dorf gab, nur einen Hof oder mehrere Höfe. Ebenso
unklar sind die Ausmasse dieser wohl mehrheitlich aus Holz Höfe.
Handelte es sich bei einem Hof um ein grosses, gemütliches Holzhaus oder
um eine Ansammlung von Hütten? Die Urkunden schweigen darüber und
beschränken sich darauf, den Rechtsinhalt einer Schenkung oder eines
Verkaufs juristisch korrekt zu fixieren.
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Die zweite Erwähnung von Riedikon und Nänikon in
einer Urkunde von 744 (StiASG, Bremen 2 –
www.stiftsarchiv.sg.ch/). Die Urkunde von 741, in welcher beide
Orte erstmals genannt werden, ist nicht im Original, sondern nur
in Abschriften erhalten. |
Postskriptum
Der junge Student vom Stammtisch ist nun neugierig geworden und fragt
sich, ob nun Nänikon nicht auch schon zusammen mit Riedikon 741 erstmals
erwähnt wird. Am Stammtisch will niemand darauf eingehen. Folglich fragt
er seinen Professor und den Sprachforscher Martin Graf. Beide bestätigen
dass das erstmals 741 genannte Nancinchova doch nur Nänikon sein kann,
aber dass die alte Forschung fälschlicherweise einen Wechsel von N
(Nancinchova) zu L (Lenzikon) konstruiert hatte und es mit Lenzikon bei
Eschenbach SG identifizierte. …
